Hörgewohnheiten
von Redaktion

Die immer gleiche Leier

„Opa, ich habe mich neulich gefragt: Gab es früher eigentlich weniger Stars?“ Wenn mein Großvater und ich miteinander reden, geht es oft um Früher. Das große „Damals“ – in meiner Wahrnehmung alles vor 2000 – ist für mich trotz aller Geschichtsstunden noch immer ein Mysterium. Wie war das Leben ohne Handy, vereintes Deutschland und LGBTQ-Akzeptanz? Dass das noch gar nicht so lange her ist, überraschst mich jedes Mal aufs Neue. Denn mein Großvater hat sowohl den deutschen Wiederaufbau als auch die 68er-Revolution und die originalen Star-Wars-Filme miterlebt. Er war dabei, als die Beatles ihre erste Single veröffentlichten und Willy Brandt Bundeskanzler wurde. Was für mich tief vergraben in den Annalen liegt, findet für ihn in seinen Erinnerungen statt.

Umso interessierter höre ich ihm zu, wenn er über die Veränderungen in den letzten Jahrzehnten spricht. „Früher gab es keine ständige Beschallung. Wir haben uns hingesetzt und Schallplatten oder Radio gehört, Musik war etwas ganz Besonderes.“ Heute noch hört er die Lieder seiner Jugend: die klassische Musik, die seine Eltern ihm mitgegeben haben und den Jazz, den er in den 60ern für sich entdeckte. Einen Musiker empfiehlt er mir besonders: Jimmy Smith heißt der US-Amerikaner, der 1925 in Pennsylvania zur Welt kam und 2005 verstorben ist. Sein Album „The Boss“ hat es ihm besonders angetan und folgt ihm bis heute. Ich nehme mir vor, mal hineinzuhören und erzähle im Gegenzug von meinen Lieblingen. Musik höre ich in der Regel übers Handy, manchmal über meinen CD-Player und ab und zu im Radio. (Dann ist es immer ein besonderes Highlight, wenn eines meiner Favoriten läuft.) Oft packe ich mir beim Schreiben, Busfahren oder Spazierengehen Kopfhörer auf die Ohren und lasse mich im Hintergrund bedudeln. Dass ich dabei früher oder später immer bei den gleichen Songs lande, stört mich normalerweise nicht weiter. Schließlich sind es die Lieder, die ich kenne und liebe, die Emotionen in mir auslösen und mir durch schwierige Zeiten helfen oder mit glücklichen Erinnerungen verbunden sind. Gerade wenn ich unterwegs bin und mir nur meine Downloads zur Verfügung stehen, ist die Auswahl sehr begrenzt.

Dabei nehme ich mir immer wieder vor, meinen musikalischen Horizont zu erweitern. Interpret*innen wie Girl in red oder die Bands The Lumineers und Kodaline sind mir in letzter Zeit öfter positiv aufgefallen und kurzerhand lud ich mir ein paar ihrer Alben aufs Handy – mit der vagen Idee, bei der nächsten Runde um den Block auf einen der Titel zu klicken. Doch das wurde zu einer größeren Herausforderung als gedacht. Oft sehne ich mich nach etwas Vertrautem und gerade, wenn ich mir eine tröstende Wirkung erhoffe, fühle ich mich nicht imstande, mich auf etwas Neues einzulassen. Wie so oft stecke ich auch in puncto Musikhören fest in meinen Gewohnheiten, sodass meine Finger ganz automatisch zu den alten Bekannten wandern. Dabei kann es so bereichernd sein, neue Kunst zu entdecken: Meine jetzigen Lieblings-Musiker*innen hätte ich schließlich nie entdeckt, wenn ich mir nicht an einem Punkt einen Ruck gegeben hätte. Und tatsächlich läuft auch Girl in reds Album If I could make it go quiet again seit ein paar Wochen in meinen Ohren auf und ab. Eine echte Neuentdeckung. Auch als ich eine Zeit lang mangels verfügbarem Handy auf CDs angewiesen war, entdeckte ich ein paar neue Favoriten in der Sammlung meiner Mutter: Emiliana Torini stand da, direkt neben dem Soundtrack zum wundervollen Musicaldrama Once. Vor ein paar Jahren baten mich meine Großeltern außerdem, die Liedtexte aus dem 1970er-Album Sugarman von Sixto Rodriguez für sie zu übersetzen. Und eine Freundin empfahl mir kürzlich das Country-Duo Maddie & Tae. Ab und zu läuft mein Bruder mit seinen Rapsongs durchs Haus, und mein Vater schaltet beim Spieleabend Dick Brave & the Backbeats, Robbie Williams oder Leonard Cohen an.

Aus allen Richtungen strömen Einflüsse auf uns ein, Meinungen werden ausgetauscht und im reißenden Strom der Musikindustrie finden sich immer wieder neue Fische. Musik spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben und trotzdem gibt es unendlich viele Musiker*innen, deren Werke ich noch nie gehört habe. Letztendlich stammt auch ein Großteil der Empfehlungen meiner Mitmenschen aus der westlichen Welt und wurde auf Englisch verfasst. Blickt man aber in die anderen Ecken der Erde, tut sich dort ein gigantischer Schlund weiterer Möglichkeiten auf. Seien es die Lieder auf WDR 5 oder die afrikanische Musik aus dem Eine-Welt-Laden: Es gibt so viel Kultur, mit der ich so gut wie nie in Berührung komme. Dabei spielt das Musikhören gerade in der jungen Generation eine wichtige Rolle: Laut dem Onlineportal www.statista.com hören etwa zwei Drittel der deutschen Jugendlichen mehrmals in der Woche Musik – in der Gesamtbevölkerung liegt die Zahl hingegen nur bei knapp einem Drittel. Möglicherweise ist es aber auch nur meine private Bubble, die meine Sicht einschränkt. Immerhin ist mit Bad Bunny ein puerto-ricanischer Raggeaton-Sänger Spotifys meistgestreamter Musiker 2021.

Bad Bunny wird sicherlich nicht in meiner aktuellen Playlist landen, aber Jimmy Smith habe ich neulich beim Spülmaschineneinräumen eine Chance gegeben. Wohlgemerkt war das zwei Wochen nach dem Gespräch mit meinem Opa, und auch da musste ich mir erstmal einen Ruck geben. „The Boss“ dudelte entspannt-cafémäßig im Hintergrund und läuft auch jetzt, beim Schreiben dieses Artikels, vor sich hin. Ich finde es interessant, welche Werke mein Großvater aus seinem langen Leben bis in die Rentnerzeit begleitet haben und wie sehr seine Jugend ihn prägte. Auch meine Eltern und meine Oma schwelgen immer wieder in Erinnerungen, wenn Lieder von Elvis Presley oder Johnny Cash zu hören sind. (Zwei Musiker, mit denen ich übrigens durchaus auch etwas anfangen kann). Manchmal frage ich mich, an wen ich mich mit 70 noch werde erinnern können und wer musikalisch an meiner Seite durch Dick und Dünn gehen wird. Im Moment kann ich mir jedenfalls noch nicht vorstellen, in ein paar Jahrzehnten nicht mehr über neue, populäre Songs informiert zu sein. Und doch staune ich immer wieder, wie sehr Generationen popkulturell aneinander vorbei leben. Als ich zum Beispiel an Heiligabend Taylor Swifts neue Alben laufen ließ, kam ihre Musik den Älteren kaum bekannt vor.

Also habe ich mir vorgenommen, den Graben ein Stück weit zu überwinden. Ich will wissen, worüber meine Großeltern und Eltern reden, was ihnen gefällt und womit sie sich beschäftigen. Welche Lieder drücken ihre Gefühle am besten aus und an wem halten sie sich fest, wenn sie einen Anker brauchen? Welche Töne machen sie glücklich oder entspannt, und wie entscheiden sich die Lieder und Stars aus dem großen „Damals“ von unseren heutigen?

Ab und zu schickt meine Großmutter mir eine Sprachnachricht mit einem Radiolied, dessen Titel sie gerne wüsste. So hat sie Harry Styles’ „Sign of the Times“ und diverse Lieder von Imagine Dragons entdeckt und es freut mich immer wieder, dass sie sich offen für Neues zeigt und ein Stück weit mit ihren Gewohnheiten bricht. Denn wenn mir das mit meinen 17 Jahren schon schwer fällt, wie geht es ihr dann erst mit über 70? Vor allem, weil es heute mehr Stars gibt als früher. Mehr zu entdecken, aber auch mehr langweilige Massenproduktion. Nicht jede Tonkombination gefällt allen, doch es lohnt sich immer, mit den eigenen Gewohnheiten zu brechen – und sei es nur, um festzustellen, dass Maddie & Tae nichts für mich sind. Aber vielleicht geht es einem auch wie meinem Vater, der neulich feststellte, dass Taylor Swifts Countrylieder ihm im Grunde doch ganz gut gefallen.

von Merle (17), Q1 Gymnasium, Lerngruppe 2 - 01/2022

Bild- und Videoquellen:

youtube.com

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